Future Past

Das Original dieses Textes wurde 2021 veröffentlicht und es geht in ihm um die Weimarer Republik. Ich habe den Text hier in eine fiktionale Aufarbeitung unserer Gegenwart verwandelt: wir stellen uns vor, wie unsere Gegenwart als Geschichte aussehen könnte, wenn man sie von einer möglichen Zukunft her betrachtet.

Die letzte tschechische Demokratie

Im Jahr 2089, einhundert Jahre nach der antikommunistischen Wende in Zentral- und Osteuropa, schaut ein Zeitungsartikel zurück auf den letzten demokratischen Staat im tschechischsprachigen Raum, die sogenannte “Tschechische Republik”.

Auch im Abstand von einem Jahrhundert hat die Epoche der Tschechischen Republik, der letzten tschechischen Demokratie, nicht an Faszination verloren. Ihre politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse bieten der heutigen Betrachtung interessante und mannigfaltige Bezugspunkte für Analyse und Vergleich.

Das Ende des Kalten Krieges bedeutete eine Zäsur, nach der nichts mehr so war wie zuvor. Die scheinbar so festgefügte egalitäre, gleichgeschaltete Ordnung des Bolschewismus mit ihren starren gesellschaftlichen Zuweisungen gehörte auf einmal der Vergangenheit an. Sie wich der völligen Umwälzung der alten politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse – betrauert und zurückersehnt von Generationen und Schichten, die sich in ihr zuhause gefühlt hatten.

Für andere, vor allem jüngere Menschen bedeutete die Wende den Anbruch einer neuen, hoffnungsvollen Zeit. Freie Markwirtschaft, Konsumgesellschaft, Reklame und später auch das neue Massenmedium Internet verkörperten Aufbruch und Wachstum.

Das galt auch in der Politik. Besonders am rechten Rand des politischen Spektrums wuchsen Bewegungen, die eine antiliberale, reaktionäre Orientierung anstrebten und sich aktiv für ein ideologisch fundiertes Gesellschaftsmodell einsetzten. Sie zogen dabei Grenzen, und zwar gegen alle Menschen, die nicht in ihr völkisches, rassistisches Raster passten.

Die politischen Führungskräfte, die das System stützten, bemühten sich um gesellschaftlichen Zusammenhalt. Doch angesichts bestehender Konfliktlinien zwischen liberalen und reaktionären Kräften, zwischen Arm und Reich, zwischen ideologisch verhärteten Fronten war dies kein leichtes Unterfangen.

Auch die äußeren Verhältnisse waren nicht günstig. Spätestens mit Einsetzen der Klimakrise und der Not breiter Bevölkerungskreise geriet die tschechische Demokratie unter Druck und wurde an die Neofaschisten unter Tomio Okamura ausgeliefert.

Diese lebendige Epoche lädt dazu ein, Parallelen zu ziehen, aber auch Unterschiede wahrzunehmen – auf jeden Fall aber Erkenntnisse zu gewinnen, die auch für die Bewältigung heutiger Problemlagen von Bedeutung sind.

Umgedichtet von Michal Měchura, 2021-10-10